„Am besten wäre es, Britannien würde bleiben“
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Fast vier Millionen EU-Bürger leben in Großbritannien. Wenige Wochen vor dem geplanten Austritt aus der EU wissen sie noch immer nicht, wie es mit ihnen weitergeht. Vier junge Zeitzeugen berichten.
Am Morgen danach ist eigentlich alles so wie immer. Oliver Neukamm steigt um kurz nach 7 in den Zug von Wandsworth nach London, das macht er immer so, um die Pendlerströme zu vermeiden. Ungefähr 30 Minuten braucht er von seiner Wohnung im Südwesten der Finanzmetropole in die Innenstadt, an diesem Mittwoch kommt er wie gewohnt schnell durch.
Dann erinnert er sich an den Abend zuvor: Wie er und seine Kollegen die Abstimmung über den Brexit-Deal mitverfolgten. Wie Premierministerin Theresa May eine schmetternde Niederlage einfuhr. Wie sich die erwartete Enttäuschung paarte mit dem Erstaunen darüber, wie sich ein Land selbst demontiert. Und wie das alles auch ihn betrifft: Oliver Neukamm ist Deutscher, einen britischen Pass hat er nicht.
Seit fast genau zwei Jahren lebt Neukamm als EU-Bürger unbehelligt in London. Der Neunundzwanzigjährige arbeitet dort in der Personalbranche, ist mit einer Britin zusammen, die beiden stecken gerade mitten im Kaufprozess für eine Wohnung – Neukamm fühlt sich wohl in der Stadt und plant, noch eine Weile zu bleiben. Er sagt, er habe Glück: „Mein Arbeitgeber unterstützt mich und würde sich auch um ein Visum kümmern, wenn das nötig werden sollte.“
An einen No-Deal-Brexit, also den ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU, glaubt er sowieso nicht. „Vielleicht ist das Wunschdenken, aber ich hoffe, dass alle Beteiligten wissen, worauf das hinauslaufen würde“.
„Politischer und ökonomischer Selbstmord“
Chaos. Chaos an den Grenzen, Chaos in den Unterthemen, Chaos für viele der mehr als 3,6 Millionen EU-Bürger im Land, die anders als Neukamm unqualifizierten und damit schlechter geschützten Jobs nachgehen. Neukamm sagt, was so viele Menschen in London denken, auf dem EU-Festland sowieso: „Am besten wäre es, Großbritannien würde in der EU bleiben.“ Politisch, kulturell und finanziell werfe der Brexit das Land 30 Jahre zurück in seiner Entwicklung. Schnell mal nach München, seine Heimatstadt, fliegen? Auch das wäre vorbei, sagt Neukamm. Und was ihn besonders fassungslos macht: „Großbritannien beraubt sich selbst der EU-Förderungen, die gerade dort, wo die Befürworter des Austritts in der Mehrheit sind, am dringendsten gebraucht werden.“
Anders als Neukamm, hat sich Lady-Gené Waszkewitz das Drama im britischen Unterhaus erst gar nicht angetan – „ich bin sowieso davon ausgegangen, dass der Deal abgelehnt wird“. Doch wie Neukamm kommt auch Waszkewitz aus Deutschland. Die Siebenundzwanzigjährige arbeitet in einer Londoner Anwaltskanzlei, wird dort zur Strafverteidigerin ausgebildet.
Auch sie befindet sich ein einer privilegierten Situation, wie sie sagt. Aus mehreren Gründen: „Erstens sind Deutsche in Großbritannien schon so gefestigt, es wäre tyrannisch sie rauszuwerfen. Außerdem habe ich eine sehr gute Ausbildung und einen gefragten Job.“ Aber: Sollte sie das Land doch verlassen müssen, wäre das eine Katastrophe. Waszkewitz hat ihr gesamtes Studium in England verbracht, ausschließlich britisches Recht gelernt. In Deutschland müsste sie bei null anfangen.
Seitdem die Briten vor zweieinhalb Jahren für einen Austritt aus der EU stimmten, fühlt sich Waszkewitz nicht mehr willkommen in dem Land, das seit acht Jahren ihr Zuhause ist. Einen britischen Pass wollte Waszkewitz nie annehmen, seit dem Brexit-Votum schon gar nicht: „Ich kann mich mit Großbritannien nicht mehr identifizieren.“ Sie sieht die Dinge pessimistischer als Neukamm und rechnet nicht mehr damit, dass die Regierung sich auf ein Austrittsabkommen einigen wird. „Es läuft auf einen harten Brexit hinaus – auch wenn das politischer und ökonomischer Selbstmord ist und sich zumindest in London niemand die Abspaltung von der EU wünscht.“
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