Auf Ibiza nahmen alle Laster ihren Anfang
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Die Serie „White Lines“ handelt von Drogen, Gurus und großen Träumen von Freiheit. Sie hat alles, was es für einen Publikumsschlager braucht; sie ist Mystery, Thriller und Drama zugleich.
3 Min.
Ibiza, Ende der neunziger Jahre: Sex, Drogen und Techno. Das weiche Balearen-Licht, die spirituelle Energie des Ortes und der grenzenlose Wille zu Schönheit und Jugend vereinigen sich zur pausenlosen Feier der Existenz. Herzschlagtreibende Beats erklingen in der Nacht, ihr Rhythmus erzeugt einen Trip von Freiheit – auf Drogen. Gott ist ein DJ, und der DJ ist der Messias. In „White Lines“, der spanisch-britischen Netflix-Produktion von „Haus des Geldes“Chefproduzenten Alex Pina, folgen die Massen ihrem charismatischen Anführer Axel Collins (Tom Rhys Harris) wie die Kinder dem Rattenfänger. Im Rausch sind alle groß, aber er ist der Größte. Und er ist der Reichste. Geld spielt keine Rolle.
Ganz schön viel Anbetung für einen unterprivilegierten Typen aus Manchester, der mit drei Freunden und einem Gettoblaster alles auf eine Karte setzte, um der britischen Arbeiterklassentristesse zu entfliehen. Er versteht sich als Künstler wie der früh verstorbene DJ Avicii, dem die Rolle des Axel in zentralen Motiven ähnelt. Axel ist durch das Musikauflegen seinem Vater Clint (Francis Magee), einem alleinerziehenden Polizisten, entkommen und dem System, das ihn als Veranstalter illegaler Partys vor Gericht stellt, weil, so sieht es der DJ, Spaß in England strafbar ist. Ebenso wie die Freiheit, so rebellisch und wild zu leben, wie manche mit zwanzig eben leben wollen. Seine Schwester Zoe (als Jugendliche: India Fowler) sollte mit achtzehn Jahren nachkommen. Bei der Feier, einer Orgie zu seinem vierundzwanzigsten Geburtstag, verschwand der DJ spurlos. Zoe (als Erwachsene: Laura Haddock) wurde erst suizidale Psychiatriepatientin, schließlich Bibliothekarin in Manchester, Ehefrau von Mike (Barry Ward) und Mutter. Versuchte zwanzig Jahre lang vergeblich, Abstand zu finden vom Versprechen eines ausgelassenen Lebens.
Das gilt, bis Axels mumifizierte Leiche in der Wüste von Almería auftaucht, auf dem spanischen Festland. Mitten im Western-Themenpark, dem konservierten Schauplatz der Spaghettiwestern-Dreharbeiten der Sechziger, in dem Touristen in Cowboymontur das Geröll durchstreifen. Weswegen die Lagebesprechung zwischen der angereisten Schwester des Toten, ihrem Mann und einem Polizisten auch im Pappmachée-Saloon stattfindet. Zwanzig Jahre zuvor gab es eine Mordermittlung auf Ibiza, die vor Zoe geheim gehalten wurde. Jetzt nimmt sie die Sache selbst in die Hand, trampt nach Ibiza und fängt ihre Nachforschungen bei Axels Freunden, dem unzertrennlichen Kleeblatt aus Manchester, an. Marcus (Daniel Mays, jung: Ceallach Spellman) ist ein Loser mit schreibunten Hemden geworden, Teilzeit-DJ und verschuldeter Koksdealer. Die Karikatur bürgerlicher Fassade, besorgter Vater, verfolgt von lachhaften Gangstertypen. Seine Lebensliebe Anna (Angela Griffin, jung: Kassius Nelson) veranstaltet High-End-Sexpartys für Superreiche und ist fasziniert von rücksichtslosem Machismo. David (Laurence Fox, jung: Jonny Green) wurde in Indien zwischenzeitlich als Guru wiedergeboren und leitet ein Yoga-Retreat. Koks, bewusstseinserweiternde Pilze, Joints und Alkohol gehören bei allen dazu. Die Entgrenzung ist zur Pose erstarrt. Messianische Erlösung und jugendlicher Enthusiasmus sind Villen-Ratenzahlungsschwierigkeiten und Drogenabsatzproblemen gewichen.
Alle sind, so erfährt Zoe nach und nach, mit der destruktiven Seite der immerwährenden Egofeier in Berührung gekommen. Vielleicht ist Satan auch ein DJ. Auf der Insel haben ohnehin die alteingesessenen Familien wie die Calafats das Sagen. Nachtclubunternehmer und Patriarch Andreu (Pedro Casablanc) ordnet seine Nachfolge zwischen Sohn Oriol (Juan Diego Bottoas) und Tochter Kika (Marta Milans), DJ Axels großer Liebe. Mutter Conchita (Belen Lopez) sorgt für die Beachtung der katholischen Traditionen, wenn es sein muss, auch mit Handarbeit für den Priester.
„White Lines“ ist eine der Hybridserien, die sich für Netflix als Publikumsschlager erweisen könnten. Teils Mysterythriller, teils skurril – insbesondere, wenn Drogenhandel im Spiel ist –, teils ernsthaft, mit zahlreichen grotesken Todesfällen und Leichenbeseitigungen spielend, bisweilen auch geschmacklos – etwa mit der erotischen Anziehung zwischen Zoe und dem „Sicherheitschef“ der Calafats, Boxer (Nuno Lopes), inklusive Schlammcatchersex über einem frisch geschaufelten Grab –, wird die Serie gleichwohl in den vielen Rückblenden in die Neunziger atmosphärisch stark. Manchester und Ibiza kurz vor der Jahrtausendwende – das sind hier öder Stillstand und lichter Neubeginn im Paradies. Einem Paradies, das freilich bewohnt ist von Geschäftsleuten, die darüber diskutieren, dass die Restaurant-Gewinnspanne bei Gazpacho größer ist als bei Kokain.
Nach zehn rasanten, bildgewaltigen, bigotten Folgen sind Ibiza und die Partypeople längst nicht auserzählt. Zwar findet Zoe Aufklärung, Seelenfrieden aber nicht. Unwahrscheinlich, dass Alex Pina keinen Thrillerplot für eine zweite Staffel „White Lines“ im Sinn hat.
White Lines startet heute bei Netflix.
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